Spurensuche auf dem Weg zu meiner Essenz

Kennst du das? Du hast ein AirBnB gemietet. Oder hütest das Haus von Freunden oder Verwandten. Vielleicht gießt du nur die Pflanzen der Nachbarin, während sie verreist ist. Oder dein:e Partner:in ist einige Tage geschäftlich unterwegs.

Und du bist allein in Räumen, die sonst von anderen bewohnt und aufgefüllt werden. Es schwebt das Fremde zwischen den Gegenständen und Zimmerwänden. Den Textilien und Fensterscheiben. In den ungewohnten Geräuschen, den ganz eigenen Gerüchen, der Ästhetik, die von jemand anderem diesem Ort eingehaucht wurde. 

Vielleicht findest du in diesen Räumen viele persönliche Dinge von den Bewohnern. Oder kein Einziges, weil die Ferienwohnung Platz für deine Kleider und Accessoires lassen will. Du nimmst vielleicht die Küche, das Wohnzimmer, den Arbeitsplatz der Freundin ganz neu wahr. Jetzt lenkt dich nicht ihre Erzählstimme ab oder der Grund, warum sie kurz in diese Zimmerecke huscht, um ein bestimmtes Buch hervorzuholen, das sie dir zeigen will. Jetzt liegen die Objekte so unbeweglich wie losgelassene Marionetten. Sie warten auf die Idee, die Motivation, den Antrieb, die Inspiration. Sie sind Materie, die ohne Geist und Energie leblos bleiben muss.

Die Formen der Dinge, treten mehr in den Vordergrund. Dein Blick kann sich vielleicht ungestört weiten, und auf einmal den gesamten Raum wahrnehmen. Jetzt, wo deine Aufmerksamkeit nicht durch die der Bewohner gerichtet, fokussiert, abgelenkt wird. Das Gesamtbild jedes einzelnen Zimmers wird sichtbarer. Und vielleicht fällt dir deswegen auf, dass es eigentlich überhaupt keinen Sinn macht, wie dieses Sofa im Zimmer angeordnet ist. Dass jenes Regal störend hervorragt oder bestimmte Farben von Vorhängen, Bildern, Handtüchern die Atmosphäre in die falsche Richtung ziehen. Dein Geist findet in den direkten Kontakt mit der Bedeutung von sentimentalen Fotos und Nicnacs deiner Tante. Die Art, wie die Vorratsregale und -behälter bestückt sind, bringt dir die Lebendigkeit des verreisten Menschen nahe. Die Art, wie dekoriert und in Ordung gehalten wird, verdeutlicht dir den Willen der Bewohner. An jeder Ecke stößt du auf die Anwesenheit der nicht anwesenden Person und auf ihre Gestaltungskraft.

Es kann aber auch sein, dass die leere Wohnung, in der du dich aufhältst, dir mehr Luft zum Atmen verschafft. Es ist gerade kein anderes Wesen voller Gedanken, Gefühle, Gewohnheiten, Geräusche, Gerüche in der Nähe. Die stillen Gegenstände ziehen deine Aufmerksamkeit nicht mit derselben Vehemenz auf sich, wie ein menschlicher Geist, ein energiegeladener Körper es tun würde. Die Dinge, die dir nicht gefallen, kannst du einsammeln und in den Schrank stecken. Du kannst hier und da verweilen, mitten im Zimmer stehen bleiben oder dich auf den Boden legen, ohne, dass jemand fragt: Was machst du denn da? Du kannst dich deinem Fühlen hingeben. Deinem Schauen, Lauschen, Spüren. Der Erfahrung, dass nur du gerade hier bist, in den Gefilden dieser Räume mit ihren Möbeln, ihrem Licht, ihrem Staub. Im stillen Austausch mit dem, was einfach da ist. Um dich herum. Was deinem Körper deutlich signalisiert, dass auch er da ist. Die Knochen, der Puls, die Fußsohlen, der Atem. 

In der eigenen Wohnung allein zu sein funktioniert deswegen wie ein Spiegel. Alles, was du hier mit der Zeit wohl überlegt platziert und eingerichtet hast, erdet dich und pulsiert mit deiner Energie, deiner schöpferischen Kraft. Die Gegenstände sind so vertraut, sie sind dir in Fleisch und Blut übergegangen. Durch dein Alleinsein mit ihnen, dürfen sie unabgelenkt auf dich einwirken. Dies ist dein Raum. Kein anderer Mensch da, der dich und diese Wirkung ablenkt. Der sie ein Stück weit auf sich aufteilt. Und auf den du achtest, den du mitbedenkst, für den du mitdeckst. Du allein in der vertrauten Umgebung. Alles dein, alles mit seiner Gegenwärtigkeit bei dir. Deine Bühne. Dein Material. Deine Art, dich zu bewegen und die Dinge in Bewegung zu versetzen. Kein Eingedrücktsein mehr in dieser Umgebung durch den anderen Körper-Kosmos. Die Dellen glätten sich, du fühlst dich wieder runder, ruhiger, näher dran. An deinem eigenen Puls, deinem eigenen Herzen. Am Kern deiner Existenz. 

Vielleicht trägt das einen Hauch von Furcht heran. Aber auch von Spannung, Neugier, Sehnsucht. Alles zusammen bringt dein Inneres in Bewegung. Vielleicht fragst du dich seit langem wieder: Wo liegen die Spuren versteckt, die mich zurück zu meiner Essenz führen?

Vielleicht spürst du deutlich, wie ein Teil des Beziehungs-Ichs verweht und du während dieser stilleren Tage dein Eigenes deutlicher wahrnimmst. Dein eigenes Leben. Das immer da ist, auch während aller Anpassung, Zurückhaltung, Anstrengung und Rechtmachung und Rücksichtnahme. Und das du jetzt gerade wieder purer kosten kannst. Forschende Fragen werden in dir hörbar: Wie mag ich es nochmal, meinen Tag zu gestalten? Wie viel Hunger habe ich eigentlich tatsächlich, wenn ich meine Aufmerksamkeit ungeteilt bei mir lassen kann? Welche Teller, Töpfe oder Kleidungsstücke lasse ich rumliegen, weil nur ich entscheide und walte?

Dein eigenes Leben. Ein Dasein voll des Zaubers deiner eigenen Aufmerksamkeit. Wie lenkst du sie, worauf richtest du sie? Darf sie dir neue Räume eröffnen? Lücken im altbekannten Alltag in Schlüssellöcher verwandeln? 

Damit deine Gestaltungskraft hervorquillt. Deine Lebendigkeit sich aufbäumt. Du dich mitten im Arbeitstag auf den Boden legst und verständnislose Fragen mit Gleichmut überhörst. Weil es genügt, dass du spürst: Ich bin hier. In diesen inneren und äußeren Räumen.