Mich verwurzeln im fließenden Alltag
Mein Schreibtisch ist ein Spiegeltisch. Es ist ein großer Tisch, mit einer Oberfläche von etwas über zwei Quadratmetern. Er ist ganz aus Holz, mit gerundeten Ecken und einer kleinen Schublade, die man an einem hübschen, weißen Emaille-Knauf aufziehen kann. Er hat über die Jahre schon viele Projekte beherbergt. Zeitweise lag er „brach“. Dann hatte ich ihn mit einer Tischdecke und Dekogegenständen hübsch gemacht, weil es in dieser Zeit nichts nach Außen zu tragen gab. Ich habe mich dann auch ein wenig vor ihm gefürchtet. So viel Fläche, so viel Platz. Und ich tu nichts damit. Oder auch: Ich konnte das Potential des großen Tisches schlummern fühlen. Harrend, wartend, wie ein großes, schlafendes Tier. Ein Drache vielleicht, der in hundertjähriger innerer Transformation verharrte. Eine Ruhephase für die Bewohner des Umlandes.
Mein Schreibtisch ist ein Spiegeltisch. Er hat eine große Oberfläche und sie ist bis auf eine Aussparung für das Laptop, an dem ich schreibe, belegt mit kleinen rechteckigen beschriebenen Kärtchen, mit hochformatigen Tarotkarten, mit vollgeschriebenen Notizzetteln in allen Größen von A4 bis A7 - diese aufeinandergestapelt - und ein paar Kristallen und Steinen. Bedeckt auch mit zwei kleinen Bücherstapeln, einem Buchkalender, einer Holzbox voll noch unbeschriebener Notizblöcke und -heften. Ein kleiner Haufen blanko Zettel, meist die Rückseiten von schon beschriebenen und klein gerissenen Papieren, um schnelle Notizen zu machen. Eine Pappschachtel, die als Ablage dient für alle Ideen, die jetzt noch nicht dran sind, für Briefe und Erinnerungen von und nach außen. Nicht fehlen darf auch die weiße Stumpenkerze, die immer brennt, wenn ich hier sitze. Mein Glas voll Bleistifte, mit denen ich am liebsten schreibe, und ein Wasserglas.
Es ist noch nicht so lange her, da hätte ich mich entschuldigt dafür, dass man Schreibtisch so voll belegt ist mit Worten und Bildern. Und dann gab es einen Moment, in dem sich mein Blick weitete und ich mich und meinen Tisch aus anderer, aus zutreffenderer Perspektive sehen konnte. Die gesamte Auslage ist eine Kunstinstallation. Ein Mosaik innerer Sammlungen. Wahrnehmungen und Worte, die mich erinnern und mich stabilisieren wie Pfähle im Wasser. Alles fließt und jeden Tag fließe ich aufs Neue mit der aktuellen Tagesströmung. Die Symbole, Worte, Zahlen, Steine, Bilder, Fragen. Ich ordne sie - herausgefischt aus den Strömungen vergangener Tage - im Außen an, um mir spiegeln zu lassen, wer ich jeden Tag aber auch immer noch bin. Und um mich erinnern zu lassen, an das, was auch immer noch wichtig ist, nachdem es mir einmal bewusst geworden ist. Damit es still und zwischenbewusst auf mich einwirken kann.
Mein Schreibtisch ist ein Spiegeltisch. Er stabilisiert mich und hält mich. Ich wehre mich nicht mehr dagegen, sondern erfreue mich an der Magie, die hier gewoben wird, vor meinen Augen, aus meinem Herzen.